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 Markt-Sprache 

 

Die Geschichte der "mittelalterlichen" Marktsprache
ist über ein Jahrzehnt älter als die Geschichte "mittelalterlicher" Handwerksmärkte. Sie beginnt ausgerechnet bei einem Ornithologen: Der Vogelkundler Claus Fentzloff führte auf der Burg Hohenbeilstein eine Greifenwarte (sowie einen gastronomischen Betrieb für das notwendige Zubrot). Als ihm in den 60er Jahren jemand antrug, nach historischem Vorbild eine "mittelalterliche Falkenstube" einzurichten, setzte er diese Idee gerne um. Immerhin war es eine interessante Aufgabe, die zudem mehr Besucher versprach. Den folgerichtigen Vorschlag, nun auch die Gastronomie mit mittelalterlichen Gastmahlen aufzuwerten, winkte er jedoch immer wieder ab. Ihn interessierten vordringlich seine Vögel. Außerdem wußte er inzwischen ziemlich genau, wieviel Arbeit in historisch genauer Nachbildung steckte. Bis ihn schließlich einer seiner Mitarbeiter vor vollendete Tatsachen stellte: "Du, ich habe gerade ein Rittermahl angenommen, für sechzig Personen." - "Oh Gott, da haben wir ja gar nichts."
Das sollte sich allerdings bald ändern. Auf einer Irland-Reise hatte Claus Fentzloff bereits gesehen, wie ein "mittelalterliches Mahl" ungefähr aussehen könnte. Dort war derlei gerade in Mode gekommen. Allerdings aß man dort historisch unbekümmert Steak mit grünen Erbsen, und die Tischmusik gaben Geige und Neuzeit-Laute. Nun gehört Claus Fentzloff zu jenen Menschen, die Dinge gerne wirklich richtig machen. Und so beschloß er, in der Kürze der verbleibenden Zeit dies auch beim Rittermahl zu tun: Passendes Tischgeschirr mußte her. Bei Breughel und Dürer fanden sich Abbildungen, nach denen er welches entwarf und in Auftrag gab. Zum Essen wurden dringend Dolche gebraucht, die er ebenso wie die nunmehr notwendig gewordenen Kronleuchter schmieden ließ. Das Personal benötigte historische Gewänder. Hier war durch die Falkenstube bereits einige Vorarbeit geleistet, das Nähen übernahm dankenswerterweise seine Frau. Musikanten waren gefragt, die möglichst authentische mittelalterliche Tafelmusik auf historischen Instrumenten darbringen würden. Tatsächlich fand sich eine Formation namens Upladhin, die genau dies bot. Zudem mußte noch eine historisch glaubhafte Speisefolge erdacht werden: immerhin waren Kartoffeln oder Tomatensalat im Mittelalter hierzulande gänzlich unbekannt. Das Ergebnis geriet so gut, daß es von nachfolgenden Veranstaltern gerne zum Vorbild genommen wurde und selbst bei heutigen Banketten noch kräftig durchschimmert. Schließlich würde alle mühevolle historische Genauigkeit nichts nutzen ohne vielerlei Erklärungen und Hinweise. Folglich bedurfte es neben der Tischmusik auch einer fundierten, aber unterhaltsamen Moderation. Hier half die reichhaltige Burgbibliothek mit den Tischsitten des Erasmus von Rotterdam, die Tischreden eines Martin Luther wurden nicht verschmäht, und Fentzloffs Vorliebe für Prätorius und die alten Minnesänger verhalf zu mancher kleinem eingeflochtenen Sentenz, die er nach seinem eigenen Sprachempfinden zu kleinen Geschichten, Anekdoten und Erläuterungen zusammenflocht. So kam es endlich, daß im Jahre 1968 "Ritter Claus" dem ersten "mittelalterlichen Rittermahl" das Geleit gab.
Das "Rittermahl" wurde ein voller Erfolg. Bald schon lohnte ein weiterer Auftrag die Mühe, dann noch einer, und schließlich ward diese kleine Sensation auch von Außerhalb geladen und gastierte landauf, landab den Westen des Reiches bereisend. Mehr als einmal geschah es, daß das "Rittermahl" von einer Gaststube gebucht wurde, um nach einmal erlebtem Vorbild in Eigenregie "nachgespielt" zu werden - bis hin zum Detail, daß die Moderation durch einen "Ritter Claus" dargebracht wurde. Kurz: Die Idee war so gut umgesetzt, daß sie vielerorts gnadenlos abgekupfert wurde.
Zu den Musikern der ersten Stunde gehörten unter dem Namen "Upladhin" der heutige Doktor Ulrich Bartels und Rolf Westenberg, zu denen sich schon bald Jürgen Körber gesellte. In jenen Tagen veranstaltete neuerdings ein gewisser Harry Owens (der später mit dem "Traumtheather Salome" berühmt wurde) mit Erfolg sogenannte "nostalgische Märkte". Dort gab es Handwerk und Handel der verschiedensten Epochen in friedlicher Eintracht auf einem großen Flecken nebeneinander zu sehen und bestaunen. Angeregt durch den Erfolg der Rittermahle, verfiel Jürgen Körber auf die riskante Idee, die vergleichsweise wenigen Handwerker einer einzigen Epoche (nämlich des Mittelalters) zu einem eigenen kleinen Markt zusammenzufassen. Um das Ambiente zu ergänzen, würde die von Körber inzwischen gegründete Formation "Kurtzweyl" historische Musik auf alten Instrumenten darbringen. Im Jahre 1981 dann fand auf der Kaiserpfalz in Düsseldorf-Kaiserswert der erste "mittelalterliche Markt" von und mit Kurtzweyl statt. Im Jahre 1982 schon folgte in Aachen der zweite, der unter dem Titel "Kramerey und Kurtzweyl" erschien und ein ebenso bahnbrechender Erfolg wurde wie zuvor das "Rittermahl".
Nun war dies nicht die einzige "mittelalterliche" Veranstaltung, die in jener Zeit zum ersten Male stattfand. Unabhängig voneinander fanden sich plötzlich an verschiedenen Stellen des Landes historische Veranstaltungen, Märkte und Turniere. Selbstverständlich legt jeder dieser Veranstalter besonderen Wert auf die Feststellung, das Wiederaufleben des Mittelalters selbst und als erster erfunden zu haben. Glücklicherweise ist es für diesen Artikel nicht erforderlich, diese Ehre wahrheitsgemäß einer einzigen Partei zuzuweisen. Unser Blickwinkel bleibt auf das Entstehen der "mittelalterlichen Marktsprache" gerichtet, und verbleibt bei "Kramerey und Kurtzweyl".
So sehr das "Rittermahl" einer Moderation bedurfte, so wichtig erschien es dieser Gruppe, etwas Gleichwertiges für einen "mittelalterlichen" Markt zu bieten. Und so durchforsteten die studierten Sprachwissenschaftler Barbara und Hermann Degener diverse Archive, um schließlich in den Polizeiverordnungen der Stadt Nürnberg aus dem 13. bis 15. Jahrhundert fündig zu werden. Aus dieser reichhaltigen Quelle und mancherlei anderem Stückwerk gestalteten sie eine eigene "Markt-Ordnung", die gleichermaßen fundiert und unterhaltsam war und zum Beginn der Veranstaltung verlesen werden konnte. Auch dieses Werk war so hervorragend gelungen, daß es in den folgenden Jahren vielerorts und immer wieder gerne als Vorlage für eigene Veranstaltungen verwendet wurde: Der Brauch, einen "mittelalterlichen" Markt mit der Verkündigung der Regularien zu eröffnen, gehört inzwischen zum "guten Ton". Und noch heute bestehen sehr viele "Markt-Eröffnungen" bei ganz unterschiedlichen Veranstaltern aus wesentlichen Elementen dieses Meisterwerks, das immer wieder durchblitzt.
Hinzu kam, daß sämtliche Mitglieder der Gruppe in mehr als ihre Gewandung schlüpften. Jedes verkörperte eine eigene 'Figur': Eine Person mit Eigenheiten, Ecken, Schrullen und Liebenswürdigkeiten, die den lieben langen Markttag lang auf dem Platz präsent war und sich nach Kräften bemühte, die eigene Rolle zu allen sich bietenden Anlässen mit Leben zu erfüllen. Heutzutage nennt man soetwas ganz selbstverständlich "Walk Act" und überlegt, ob derlei auf Märkten denn nun wirklich vonnöten sei. Damals war es eine immer noch revolutionär neue Theaterform, und die Wirkung war umwerfend. Einerseits war der Marktplatz mit seinen vielen Ständen und Büdchen mit anschaulichem Leben erfüllt, das die Besucher direkt betraf. Andererseits gab es für die Aktiven immer wieder neue sprachliche Herausforderungen: Ein Wort gab das andere, und so entstand aus alledem allmählich eine eigene Sprechweise mit stehenden Redewendungen, immer wieder neuen Begriffen und eigentümlichem Klang. Erste Spielszenen an Glücksrad und Pranger, in vielen Worten und Begriffen mühevoll recherchiert, füllten sich mit Leben und eigenen Tonfällen. Und schon bald entwuchs die neugeborene "Marktsprache" ihrer Wiege.
Einer guten Idee ist es bekanntlich gleichgültig, wer ihre Eltern sind. Bald schon begannen neue Gruppen, "mittelalterliche" Märkte zu veranstalten. Selbstverständlich gab es in dieser neuen Sparte der Straßenkunst auch wechselseitige Besuche unter Kollegen. Und es gehörte (wie immer in der Unterhaltungsbranche) dazu, das Beste vom Erinnerten dem eigenen Programm passend beizufügen. Zwar blieb dadurch mancherlei von der einmal gefundenen Kunstform auf der Strecke. Gemessen an der sprachlichen Intensität der Anfänge, erging es der jungen Marktsprache auf ihrem Weg in die Welt wie einem bunten Luftballon, der immer weiter aufgeblasen wird: Konturen werden allmählich unscharf und die Farben verblassen. Dennoch erwies sich die einmal gefundene Idee als stark genug, auch von anderen als ihren Eltern gezogen zu werden.
Heutzutage finden wir Vieles aus jenen alten Tagen fast überall auf "mittelalterlichen" Märkten wieder. Manches ist neu hinzugekommen, während Anderes verblaßt ist und kaum noch verwendet wird. Inzwischen lassen sich verschiedene Gruppierungen von "mittelalterlichen" Marktleuten an ihrer "Mundart" (dem Klang ihrer "Marktsprache") unterscheiden. Es gibt radebrechende Mischformen bei jenen, die eben erst beginnen, die Sprache zu erlernen. Und es gibt seit geraumer Zeit Stimmen, die über den Verfall dieser Sprache wehklagen und ihren Niedergang prophezeien. Kurz: Es sei den Eltern und Großeltern dieser Redeform endlich gedankt, eine Sprechweise entwickelt zu haben, die nunmehr eine lebendige Sprachform geworden ist.
 
An dieser Stelle möchten wir Eure Vergebung erheischen.
Bislang sind hier zwar die Ursprünge der "Markt-Sprache" erwähnt. Diese wirkt zunächst noch sehr "westlastig". Hier fehlt der Hinweis, daß es auch im Osten des lange geteilten Reiches "mittelalterliche" Veranstaltungen gab, und daß sich auch dort eine Kultur "mittelalterlicher" Sprechweise entwickelt und verbreitet hat.
Allerdings ist die "Recherche Ost" noch nicht abgeschlossen. Wir möchten Euch hier nicht mit voreiligen Schlüssen langweilen, die wir später revidieren müßten. Daher beschränken wir uns zunächst auf die frühen Anfänge und allgemeine Entwicklung und lassen weitere Ergebnisse später hier einfließen.
Wir bedanken uns für Eurer Verständnis als auch Eure Geduld.
 
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Hajo Dreyfuß
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